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Was Zusammenarbeit auslösen kann… (Winter-2023-Mini-Erlebnis Teil 1/3)

„Zusammenarbeit“ in der klassischen Musik ist ja etwas Besonderes, denn in den meisten Fällen kennen sich die Beteiligten nicht. (Ich habe zum Beispiel schon viele Stücke von Bach dirigiert, aber zwischen meinem Geburtstag und dem von Herrn Bach liegen über 300 Jahre…das führt zu deutlich erschwerter Kommunikation 😉).

Das Phänomen, dass die „Zusammenarbeit“ im Abstand von vielen Jahren stattfindet, kann mitunter kuriose Züge annehmen – so geschehen im Jahr 1922: Ein Komponist orchestrierte ein Klavierstück eines anderen Komponisten (er schrieb es also so um, dass es von einem Orchester gespielt werden konnte), das 50 Jahre lang in irgendeiner Schublade vor sich hin geschlummert hatte – und in der neuen Orchesterfassung über Nacht ein WELTERFOLG wurde!

Bevor ich Ihnen zeige, um welches Werk und welche beiden Komponisten es geht, muss ich Ihnen erst einen anderen Künstler vorstellen: den Maler Wiktor Hartmann.

Wiktor Hartmann
Wiktor Hartmann.

Wiktor Hartmann wurde 1834 in Sankt Petersburg geboren, verlor aber früh beide Eltern und wuchs bei seinem Onkel auf. Dieser war ein berühmter Architekt, sodass es nahelag, dass auch Hartmann eine Laufbahn mit Bleistift und Zeichenblock einschlagen würde.

So studierte er an der Akademie der Künste in Sankt Petersburg und unternahm anschließend ausgedehnte Studienreisen. Auf diesen Studienreisen fertigte Hartmann Architekturskizzen, aber auch wunderbare Aquarellmalereien an:

Hartmann war also auf Reisen. Das dauerte ein Weilchen. Schauen wir uns inzwischen an, was sich währenddessen in Sankt Petersburg tat…

Sankt Petersburg war zu dieser Zeit eine Brutstätte der Kultur. Nicht nur gemalt wurde fleißig, sondern auch komponiert: Im Jahr 1862 schlossen sich fünf junge russische Komponisten zu einer Gruppe zusammen. Sie lebten und arbeiteten zusammen – fast wie in einer Kommune – und tauschten sich intensiv über Musik, Kunst, Philosophie und Politik aus. Dazu gehörte selbstverständlich auch, Kontakte zu Künstlern aller Sparten zu knüpfen.

Unser Maler Wiktor Hartmann war inzwischen zurück von seinen Studienreisen und machte die Bekanntschaft mit den fünf jungen Komponisten. Einer davon beeindruckte ihn besonders: Modest Mussorgski.

Modest_Musorgskiy,_1870
Modest Mussorgski.

Hartmann und Mussorgski wurden enge Freunde. Ihre Freundschaft hätte auch der Anfang einer langen, fruchtbaren Zusammenarbeit sein können, doch dann…starb Wiktor Hartmann. Mit gerade einmal 39 Jahren.

Mussorgski war am Boden zerstört. Wenn sein Freund ihn schon so früh verlassen hatte, wollte er ihm wenigstens ein musikalisches Denkmal setzen. So kam es, dass Mussorgski im Jahr 1874 einige Aquarellbilder von Hartmann „vertonte“ – er schrieb also pro Bild ein kurzes Klavierstück, das zum jeweiligen Bild passte.

Diese Klavierstücke wurden in einem Zyklus zusammengefasst, der Bilder einer Ausstellung heißt.

Pictures_at_the_Exhibition_1st_edition
Die Titelseite der Erstausgabe der Bilder einer Ausstellung.

Niemand interessierte sich sonderlich für Mussorgskis Klavierzyklus…Viele Jahre lang wurden die Bilder einer Ausstellung kaum beachtet. Im Jahr 1881 starb Modest Mussorgski in dem Glauben, mit den Bildern einer Ausstellung kein besonders mitreißendes Werk geschaffen zu haben. Auch Mussorgski wurde (aufgrund langjähriger Alkoholabhängigkeit) nur 42 Jahre alt.

Doch in demselben Jahr (1881), in dem Mussorgski starb…

…bekam ein kleiner Junge in Paris gerade seinen ersten Klavierunterricht. Sein Name: Maurice Ravel.

Classe_Bériot_1895
Maurice Ravel (ganz links) – auf diesem Bild bereits 20 Jahre alt – zusammen mit seinem Klavierprofessor und weiteren Klavierstudenten.

Dass ausgerechnet dieser kleine Junge Mussorgskis Bilder einer Ausstellung 40 Jahre später weltberühmt machen würde, indem er sie auf kunstvollste Weise für Orchester umschrieb, konnte damals wohl niemand ahnen…

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