Der elementare Faktor (Einführungsserie Beesy-5 Teil 1/4)
Das ist der 1. Teil einer vierteiligen Einführungsserie, die bis Donnerstag (22.09.) dauert. Am Freitag (23.09.) erscheint dann die Klassik-Blüte zu Beethovens 5. Symphonie (im Folgenden kurz: Beesy-5).
Ich möchte Ihnen in dieser Einführungsserie gerne Wege aufzeigen, wie Sie Ihr persönliches Klassische-Musik-Erlebnis bereichern können.
Diese Wege basieren auf meinen Erfahrungen als Dirigent und sind teils ein Einblick in meine Arbeit mit Orchestern, teils aus Rückmeldungen entstanden, die ich von Opern- und Konzertbesuchenden erhalten habe.
Sie bekommen also Wege aufgezeigt, die sich in der Praxis bewährt haben. Ich bin daher überzeugt, dass diese Einführungsserie für Sie wertvoll sein wird, ganz unabhängig davon, ob Sie Beesy-5 am Ende kaufen oder nicht.
Für diese Serie habe ich mir zwei Ziele gesetzt: ein Minimalziel und ein ambitionierteres Ziel.
Wenn Sie am Ende dieser Serie neue Einblicke in das Musikhören erhalten haben, die spannend, erhellend und/oder begeisternd sind, ist mein Minimalziel erreicht.
Mein ambitionierteres Ziel baut auf dem Minimalziel auf und ist etwas schwieriger zu erklären.
Ich würde Ihnen in dieser Serie gerne ein „neues Musikhören“ ermöglichen. Dieses „neue Hören“ ist schwer zu beschreiben. Es ergibt sich als „Nebenprodukt“ aus dem Kreislauf, den ich im Klassik-Blüten-Manifest vorstelle. (Wenn Sie das Manifest noch nicht gelesen haben, springen Sie jetzt bitte nicht dorthin. Das Manifest ist ein langer Text (ca. 1700 Wörter), für den Sie sich eine ruhige halbe Stunde nehmen sollten )
Sie werden das „neue Hören“ erkennen, wenn Sie es erleben. Man hört (und spürt) auf einmal Dinge, die man vorher gar nicht wahrgenommen hat. Das passiert insbesondere oft bei Stücken, die man schon Dutzende Male gehört hat. Man denkt, man hat alles gehört, und auf einmal macht es „Klick“ – und eine neue Welt tut sich auf.
Wenn Sie dieses „neue Hören“ innerhalb dieser Einführungsserie erreichen – großartig. Dann wäre mein ambitionierteres Ziel erreicht. Versprechen kann ich Ihnen das allerdings nicht – das „neue Hören“ stellt sich bei jedem individuell ein und meistens dann, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Gut! Los geht’s.
Wir beginnen diese Serie mit dem Faktor, der die elementare Grundlage für die Steigerung von Hörgenuss ist.
Um Ihnen diesen Faktor zu verdeutlichen, möchte ich Sie gerne zu einer Gedankenreise mitnehmen. Sie besteht aus 2 Teilen und dauert insgesamt nur 5 Minuten.
Teil 1:
Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einem Aussichtspunkt und blicken auf einen Fluss hinab. Ungefähr so wie hier:
© Petr 1888 via CC BY-SA 3.0
Versuchen Sie, sich ganz in das Bild hineinzuversetzen. Was fühlen Sie? Welche Farben sehen Sie? Was hören Sie?
Wenn Sie das Bild ganz klar vor Ihrem inneren Auge haben, hören Sie sich diese Musik an:
Konnten Sie spüren, wie die Musik Ihr geistiges Bild ergänzt hat? Konnten Sie das Fließen hören, die Wellen, das Rauschen?
(Das war ein Ausschnitt aus dem Stück Die Moldau von Bedřich Smetana, der darin den gleichnamigen Fluss „vertont“ hat. Das Bild oben zeigt tatsächlich den Aussichtspunkt, an dem sich Smetana zu seiner Komposition inspiriert gefühlt hat.)
Gut. Versuchen Sie, diesen Eindruck innerlich „abzuspeichern“. Dann gehen Sie weiter zu Teil 2.
Teil 2:
Ich möchte gerne eine Wette mit Ihnen eingehen. Die Wette geht so: Sie hören sich das folgende Musikbeispiel an und merken sich, welche Bilder Ihnen als Erstes in den Sinn kommen. Dann lesen Sie weiter. Ich wette, dass ich weiß, welche Bilder Sie sehen 😉
…
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Ein düsteres Schloss und ein dampfender Zug. Ein Junge, der eine Brille trägt und eine markante Narbe auf der Stirn hat. Vielleicht auch eine Eule.
Habe ich recht?
(Dieses Beispiel war natürlich ein Teil der Harry-Potter-Filmmusik.)
Lassen Sie uns kurz überlegen, was in dieser Gedankenreise passiert ist. In beiden Teilen konnten Sie sofort eine Art „Handlung“ verfolgen, die in Ihrem Kopf abgelaufen ist.
Das hat damit zu tun, dass Musik, die mit Bildern verknüpft ist, einfacher nachzuvollziehen ist.
Im ersten Teil habe ich Ihnen das Bild (Smetanas Aussichtspunkt) vorab gegeben, und Sie haben anschließend die Musik dazu bekommen. Im zweiten Teil waren die Bilder dank der Bekanntheit der Harry-Potter-Filme schon in Ihrem Kopf; die Filmmusik musste sie nur noch „auslösen“.
Nun waren das zwei Beispiele, die an ganz konkrete Bilder geknüpft waren. Bei anderen Stücken sind die Bilder nicht immer so eindeutig, und das sollen sie auch nicht sein.
Mit dem Begriff Bild meine ich hier ein sehr breites Spektrum. Jeder Musikhörende „sieht“ beim Musikhören etwas anderes, und längst nicht jeder sieht konkrete Bilder wie einen Fluss oder ein Schloss.
Ich persönlich „sehe“ zum Beispiel häufig abstrakte Strukturen. Ich kenne auch Menschen, die weder Bilder noch Strukturen sehen; stattdessen fällt ihnen während des Musikhörens eine Geschichte, eine „Story“ ein, die zur Musik passt.
„Bild“ ist also nicht ganz der passende Begriff. Lassen Sie es uns daher allgemeiner formulieren: Um den Genuss am Hören von Musik (nicht nur klassische, sondern JEDE Musik!) steigern zu können, braucht es eine Führung.
Egal, wie diese Führung für Sie persönlich aussieht (ob es Bilder, Strukturen, Geschichten oder ganz andere Dinge sind), die Funktion ist immer dieselbe: Die Führung wirkt wie ein „Fahrplan“, der Ihnen in einem Musikstück Orientierung gibt.
Die Führung ist der elementare Faktor, der zur Steigerung des Hörgenusses erforderlich ist.
Und genau hier hat die klassische Musik ein dickes Problem. Mehr dazu morgen.
Jonathan Stark
PS: Wenn Sie Fragen oder Anregungen zu dieser Einführungsserie haben, antworten Sie gerne auf diese E-Mail oder (noch besser) schreiben Sie einen Kommentar auf der Produktseite. Dort haben wir alle etwas davon. Auf der Produktseite gibt es auch das Manifest „Betrachter vs. Eintaucher“ zu lesen, das die Grundlage für diese ganze Serie ist.