Führung oder Nichtführung? (Einführungsserie Beesy-5 Teil 2/4)
In Teil 1 haben wir zwei Dinge gesehen:
- Es braucht (irgendeine Art von) Führung, um den Genuss am Musikhören zu steigern.
- Genau damit hat die klassische Musik ein dickes Problem.
Die Hervorhebung (klassische Musik) ist kein Zufall. Das Problem betrifft vielleicht nicht nur, aber hauptsächlich die klassische Musik.
Rufen Sie sich nochmal ins Gedächtnis, welche Musikbeispiele wir in Teil 1 hatten. Es gab Die Moldau von Smetana und die Harry-Potter-Filmmusik. Beides war eng mit Bildern und, im Fall von Harry Potter, mit einer Geschichte verknüpft.
Das Problem der klassischen Musik lautet: Klassische Musik ist oft nicht mit Bildern und/oder Geschichten verknüpft.
Bevor Sie jetzt laut aufschreien – ja, es gibt natürlich Ausnahmen. Vor allem diese beiden Gruppen:
- Programmmusik (Smetanas Die Moldau aus Teil 1 war ein Beispiel dafür) und
- Musik mit Text und/oder Handlung (Chormusik, Lieder, Opern…).
Meiner Erfahrung nach fällt es Menschen bei diesen beiden Gruppen leichter, den Kreislauf zur Steigerung des Hörgenusses zu durchlaufen, weil Programm und Text die Führung bereitstellen.
Aber in den meisten klassischen Musikwerken kommt weder ein Programm noch Text vor. Deshalb könnte man meinen, dass die Führung fehlt.
Das Ergebnis: Klassische Musik wirkt unverständlich, gilt als trocken und abgehoben.
(Das ändert sich übrigens sofort, wenn für ein klassisches Musikstück durch ein anderes Medium die Führung bereitgestellt wird, z. B., wenn klassische Musik in einem Film verwendet wird. Gustav Mahlers Adagietto aus seiner 5. Symphonie ist ein berühmtes Beispiel dafür. Luchino Visconti verwendete es 1971 in seinem Film „Tod in Venedig“, woraufhin die Popularität von Mahlers Symphonien sprunghaft anstieg.)
Ich habe absichtlich geschrieben, dass man meinen könnte, klassischer Musik fehle die Führung. Denn in Wahrheit liegt die Sache anders:
Jedes Stück klassischer Musik hat eine Führung, wir nehmen sie nur nicht mehr wahr.
Als die klassische Musik noch die Popmusik war, haben die Menschen anders gehört. Sie konnten ein Stück Musik hören wie ein gutes Gespräch. Das war möglich, weil klassische Musik aus den folgenden drei Komponenten besteht:
- Syntax – Klassische Musik ist der menschlichen Sprache sehr ähnlich.
Wenn wir sprechen, machen wir Pausen, um Satzteile voneinander abzuheben. Wir heben die Stimme, wenn wir etwas fragen. Wenn uns etwas besonders wichtig ist, betonen wir JEDES! EINZELNE! WORT!
All das gibt es in der klassischen Musik auch – Kommata, Fragezeichen, Ausrufezeichen. Sogar Doppelpunkte gibt es. In der klassischen Musik funktioniert all das ohne Worte, nur mit den Mitteln der Musik.
- Struktur – Klassische Musik ist glasklar strukturiert.
In unserem westlichen Kulturraum gilt Symmetrie als hohes ästhetisches Gut. Das spiegelt sich in der klassischen Musik wider, die zu großen Teilen aus Vielfachen aufgebaut ist.
Zum Beispiel kann eine Phrase einen Takt lang sein. Darauf folgt eine weitere Phrase, die sich aber im Charakter von der ersten Phrase unterscheidet:
a – b
Die Spannung zwischen den Phrasen wird betont, indem das Ganze einmal wiederholt wird:
a – b | a – b
Darauf folgt ein Abschnitt, der genauso lang ist, aber zwei neue Phrasen einführt:
a – b | a – b | c – d | c – d
Und so weiter…
- Dramaturgie – Klassische Musik funktioniert nach derselben Dramaturgie wie Ihre Lieblingsserie (Lieblingsfilm, Lieblingsroman…)
In der klassischen Musik geht es immer um die Spannung zwischen einer Sache und einer anderen Sache – genau wie in guten Serien, Filmen oder Büchern: Wir alle kennen die Spannung zwischen Protagonist und Antagonist, die am Anfang aufgebaut und am Ende aufgelöst wird. In der klassischen Musik funktioniert das genauso, nur eben rein musikalisch: mit Phrasen, Melodien, Harmonien…
Diese drei Elemente – Syntax, Struktur und Dramaturgie – sind die Führungselemente klassischer Musik. Zusammen bilden sie die Führung in jedem klassischen Musikstück.
Wenn Sie an den Punkt kommen, dass Sie die drei Führungselemente während des Musikhörens live mitverfolgen können, dann ist dem Hörgenuss nach oben keine Grenze gesetzt. Das verspreche ich Ihnen. Sie haben dann das „neue Hören“ (vgl. Teil 1) erreicht.
Beesy-5 ist dazu designt, Sie an genau diesen Punkt zu bringen. Morgen zeige ich Ihnen, wie.
Jonathan Stark
PS: Es gibt eine „Meta-Erkenntnis“, die sich aus dem Manifest, Teil 1 und Teil 2 der Einführungsserie ergibt. Um sie zu erkennen, müssen Sie aus der Vogelperspektive auf diese drei Texte schauen. Wenn Sie zu wissen glauben, was gemeint ist, freue ich mich über eine E-Mail an jonathan@starkconductor.com oder einen Kommentar auf der Produktseite.