Klassik erkunden, Schritt für Schritt (Einführungsserie Beesy-5 Teil 3/4)

Ich muss diesen Teil mit einem großen DANKE beginnen.

Gestern habe ich Sie dazu eingeladen, nach der „Meta-Erkenntnis“ aus Manifest, Teil 1 und Teil 2 zu suchen. Dass ich so viele Rückmeldungen per E-Mail bekommen würde – damit hätte ich niemals gerechnet. Dabei sind Punkte aufgetaucht, die mir bislang selbst noch nicht klar waren (mehr dazu gleich).

Vorher aber Ehre, wem Ehre gebührt: Heute Vormittag um 11:37 Uhr hat Monika R. als Erste die „Meta-Erkenntnis“ entdeckt und mir per E-Mail geschrieben:

„Müsste man die Führungselemente nicht irgendwie greifbar machen können? Du hast ja geschrieben, wir nehmen sie nicht mehr wahr. Aber sie sind ja noch in der Musik. Die Musik ist ja dieselbe geblieben, nur wir haben uns verändert.“ (von Monika R.)

Genau so ist es.

Wenn Führung zur Steigerung des Hörgenusses erforderlich ist, unsere „modernen Ohren“ die drei Führungselemente klassischer Musik (Syntax, Struktur, Dramaturgie) aber nicht mehr wahrnehmen können, dann müssen die Führungselemente sichtbar gemacht werden.

Wie schon angedeutet, haben andere Lesende zum Teil Punkte angesprochen, die mir selbst noch gar nicht bewusst waren. Interessante Rückmeldungen kamen vor allem über das „neue Hören“ und das Beispiel mit der Mahler-Filmmusik, das ich gestern eigentlich nur so nebenbei eingestreut habe.

Hier zwei Rückmeldungen, die dafür repräsentativ sind:

„Wenn wir die Führungselemente heute beim Musikhören nicht mehr erkennen, ist dann das „neue Hören“, von dem Sie schreiben, nicht eigentlich das „alte Hören“?“ (von Christian M.)

Auf den Kopf getroffen. Das ist natürlich vollkommen richtig. Wenn wir das „neue Hören“ anstreben, streben wir eigentlich danach, wieder so hören zu können, wie die Zeitgenossen von Beethoven Musik gehört haben.

„Für mich besonders interessant war das Mahler-Beispiel. Ich liebe Viscontis Film und seitdem auch das Stück von Mahler. Es zeigt für mich, dass mit Führung auch hochkomplexe Musik greifbar wird.“ (von Karl-Heinz B.)

Auch das ist eine Erkenntnis, über die ich selbst noch gar nicht nachgedacht hatte. Sie ist völlig richtig und zeigt, wie mächtig Führung ist: Mahlers Musik ist hochkomplex, wurde dessen ungeachtet aber total beliebt, seitdem Visconti mit seinem Film die Führung dazu bereitgestellt hat.

Also: Vielen, vielen Dank. Ich lerne beim Schreiben dieser Einführungsserie mindestens genau so viel wie Sie als Lesende.

Jetzt zu Beesy-5. Am Freitag öffnen sich ja die Tore und ich habe Ihnen gestern versprochen, zu zeigen, wie das Erkennen von Syntax, Struktur und Dramaturgie zum „neuen Hören“ beiträgt. Los geht’s.

Ich nehme dafür jeweils den Anfang eines Stücks von zwei sehr berühmten Komponisten: Mozart und Beethoven.

Mozarts Symphonie Nr. 41 beginnt so:

Ein Beginn mit drei Ausrufezeichen: HIER! BIN! ICH!
Das ist Syntax.

Direkt anschließend lässt Mozart das hier folgen:

Eine Frage. Wenn wir eine Frage stellen, geht unsere Stimme nach oben. Hier ist es genauso.
Auch das ist Syntax.

Verbunden klingt das so:

Wenn man beide Teile direkt aufeinanderfolgend hört, wird deutlich, wie groß der Kontrast zwischen ihnen ist: Hier der polternde Beginn, dort die zarte Frage.
Das ist Dramaturgie. Die Teile sind so verschieden wie Feuer und Wasser, Süd und Nord oder einfach nur a und b:

a – b

Das ist die Struktur von Mozarts Anfang.

Danach folgt das:

Nochmal a – b. Die gesamte Struktur sieht also so aus:

a – b | a – b

Eine perfekte Symmetrie. Alles ist balanciert, ausgewogen, filigran. In der folgenden interaktiven Grafik können Sie diesen Anfang selbst erkunden (mit einem Klick auf die großen Rechtecke können Sie die einzelnen Bestandteile abspielen. Klicken Sie auf den schwarzen Pfeil, um alle Bestandteile im Zusammenhang zu hören. Mit dem Stop-Button oben können Sie die Wiedergabe jederzeit stoppen):

Jetzt zu Beethoven.

Beethovens Klaviersonate Nr. 1 beginnt mit der folgenden Melodie:

Überlegen Sie kurz: Wie würden Sie hier die Syntax beschreiben?

Ich würde sagen: Nach etwas streben. Vorwärts kommen wollen.

Für Sie kann es aber auch etwas ganz anderes sein.

Beethoven lässt das hier folgen:

Es ist dasselbe noch einmal, nur höher. Die Struktur von Beethovens Beginn sieht also so aus:

a – a

Wo Mozart auf Kontraste setzt (a – b), setzt Beethoven auf Wiederholung. Es ist, als würde man etwas zweimal sagen, um es zu bekräftigen.

Danach kommt dieser Abschnitt:

Beethoven wiederholt nichts mehr, sondern entwickelt sofort. Aus seiner Struktur

a – a | Entwicklung

…ergibt sich eine ganz andere Dramaturgie als bei Mozart: Bei Mozart waren es die starken Kontraste, die das musikalische Geschehen zum Laufen gebracht haben, hier ist es der ständige Drang nach Transformation.

Hier können Sie diesen Anfang selbst erkunden (inklusive der Original-Begleitung, die ich oben zur Verdeutlichung weggelassen habe):

Gehen Sie diese Beispiele gerne mehrmals durch. Wenn Ihnen die Musik von Mozart und Beethoven per se zusagt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie Ihnen bei jedem Durchgang besser gefällt (Mere-Exposure-Effekt).

Zwei Nebeneffekte möchte ich gerne ansprechen:

  1. Mit Syntax, Struktur und Dramaturgie können Sie jedes klassische Musikstück erkunden, unabhängig von anderen Faktoren. Das obige Mozartstück ist beispielsweise für Orchester, Beethovens Stück ist für Klavier. Für die Steigerung des Hörgenusses durch die drei Führungsfaktoren ist das irrelevant.
  2. Vergleiche sind ergiebig: Wenn Sie erkennen, wie Mozart und Beethoven im Verhältnis zueinander stehen, können Sie auch die Musik jedes Einzelnen intensiver erleben.

Das Aufdecken der Führungsfaktoren sowie das Vergleichen sind zwei wesentliche Bestandteile von Beesy-5. Sie reichen allerdings allein nicht aus, um das „neue Hören“ zu erreichen.

Dafür ist ein dritter Bestandteil erforderlich, der auch in Beesy-5 abgedeckt wird. Mehr dazu morgen.

Wenn Sie schon eine Idee haben, was das sein könnte, schreiben Sie mir gerne wieder an jonathan@starkconductor.com oder hinterlassen Sie einen Kommentar auf der Produktseite. Ich bin gespannt.

Zwei Tipps: Erstens, das Manifest auf der Produktseite ist voller Hinweise. Zweitens, Christian M. war in seiner E-Mail (siehe oben) schon sehr nahe dran.

Bis morgen!

Jonathan Stark

Jonathan Stark press picture

PS: Ab morgen finden Sie auf der Produktseite eine komplette Aufstellung der Inhalte, die Sie in Beesy-5 erwarten. Im morgigen letzten Teil der Einführungsserie werde ich außerdem Fragen beantworten, die mir seit Montag mehrmals per E-Mail gestellt wurden.