Welche Aufgabe übernimmt die linke Hand beim Dirigieren? Richard Strauss, ein berühmter Dirigent und Komponist des 19. und 20. Jahrhunderts, hatte eine klare Meinung dazu.
Das lesen Sie in diesem Artikel:
„Die linke Hand hat mit dem Dirigieren nichts zu tun.
Sie gehört am besten in die Westentasche.“
Von den zahlreichen überlieferten Zitaten Richard Strauss‘ ist dieses eines der bekanntesten. Richard Strauss war schon zu Lebzeiten bekannt für seinen gestisch knappen Dirigierstil, bei dem die linke Hand kaum eine Rolle spielte. Wenn Sie sich davon selbst ein Bild machen möchten, sehen Sie sich den folgenden Dokumentationsausschnitt an:
aus: „The Art of Conducting: Great Conductors of the Past.“ (1994)
Bestimmt ist Ihnen aufgefallen, dass der in diesem Video dirigierende Richard Strauss bereits ein eher gesetztes Alter erreicht hat (zu diesem Zeitpunkt hatte er schon eine MENGE Erfahrung, zum Beispiel im Dirigieren seiner eigenen Opern). Dieser Punkt ist bei der Bewertung von Strauss‘ Dirigierstil von Bedeutung, denn Strauss hat nicht immer auf die Art und Weise dirigiert, wie Sie es im Video sehen können. Zu Beginn seiner Laufbahn galt sein Dirigierstil sogar als überaus exzentrisch – was mit seiner Dirigierausbildung zu tun gehabt haben dürfte.
Richard Strauss‘ Dirigierausbildung
Richard Strauss erhielt prägende künstlerische Impulse von Hans von Bülow, einem der ersten „Stardirigenten“ überhaupt. Bülow wirkte als Dirigent bei der Meininger Hofkapelle und machte den jungen Richard Strauss dort zu seinem Nachfolger.
Hans von Bülow war für seinen expressiven Dirigierstil bekannt. Hierin vergleichbar war Bülow mit Gustav Mahler, einem weiteren Stardirigenten in der Zeit um 1900. Entsprechend gefragt waren beide Dirigenten als Motiv für Zeitungskarikaturen:
Karikaturen von Bülow (Original: Figaro 28 (1884), H. 50
(13.12.1884) – reproduziert aus der Österreichischen Nationalbibliothek) und Mahler (Original: Illustriertes Wiener Extrablatt 25-11-1900 – reproduziert von https://de.mahlerfoundation.org/mahler/the-man/caricatures/, 27/NOV/2020).
Bei einem Konzert in München trat Richard Strauss gemeinsam mit seinem Lehrer Hans von Bülow auf, woraufhin sich die Zeitungskritiken überschlugen: Bülows Dirigierstil wurde mit „schwedischer Heilgymnastik“ verglichen, Strauss‘ Dirigierbewegungen als „seekrank“ bezeichnet.
Erschwerend hinzu kam, dass Richard Strauss‘ Vater – Franz Strauss – ein hochgeschätzter Hornist war, der sich verständlicherweise an den Zeitungskritiken über die Dirigate seines Sohnes nur wenig erfreuen konnte. Überliefert ist folgender Brief von Franz Strauss an seinen Sohn Richard:
„Es ist unschön, beim Dirigieren solche Schlangenbewegungen zu machen, und namentlich bei einem so langen Menschen wie Du einer bist. Es ist bei Bülow schon nicht schön, und der hat doch eine kleine, graziöse Figur. […] Ich bitte Dich daher, lieber Richard, folge meinem Rate und gewöhne Dir das Faxenmachen ab.“
Brief von Franz Strauss an Richard Strauss vom 26.10.1887.
Umstellung des Dirigierstils
Es wäre wohl hochspekulativ, zu behaupten, dass die Schockwirkung, die von den Kritiken und Franz Strauss‘ gut gemeintem Ratschlag ausging, so groß gewesen wäre, dass Richard Strauss schlagartig seinen Dirigierstil umgestellt hätte. Wahrscheinlicher ist, dass Richard Strauss im Verlauf seiner jahrzehntelangen Tätigkeit nach und nach bewusst wurde, wie wenig ein Orchester eigentlich „braucht“ – eine Erkenntnis, die im Übrigen die meisten Dirigenten nach vielen Jahren praktischer Dirigiertätigkeit gewinnen.
Folglich verschwand die linke Hand irgendwann in der Westentasche – und das Orchester spielte trotzdem. Kein Wunder, dass der 58-jährige Richard Strauss seinen jungen Kollegen im Jahr 1922 riet:
„Du sollst beim Dirigieren nicht schwitzen, nur das Publikum soll warm werden.“
Jonathan Stark – Dirigent
Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.