Die Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra beginnt nicht in Chicago. Sie beginnt auch nicht in New York und noch nicht einmal in Amerika. Sie beginnt in einem winzigen Städtchen in Norddeutschland, in dem der 10-jährige Theodor auf seiner Geige spielt.
Frühjahr 1845: Esens/Ostfriesland, Königreich Hannover
Theodor schloss die Augen und lauschte. Nur ein Plätschern war zu hören. Ruhig floss das Benser Tief, der Stadtfluss von Esens, in Richtung Nordsee.
Ein Windhauch streichelte zuerst Theodors Gesicht und brachte dann die Saiten seiner Geige zum Schwingen. Theodor lächelte. Er liebte seine Geige. Vor acht Jahren hatte er mit dem Geigenspiel begonnen. Damals war er gerade einmal zwei Jahre alt gewesen.
Theodor war oft hier. Er liebte es, in der Abenddämmerung am Ufer des Benser Tiefs Geige zu spielen. Hier störte ihn niemand. Alle Sorgen schienen ganz weit weg.
Heute spielte er Beethoven. Theodors Vater sagte oft, dass Beethoven der größte Komponist aller Zeiten gewesen sei. Auch Theodor war fasziniert vom dunklen Beginn der Coriolan-Ouvertüre, die er jetzt zu spielen begann. Er warf sich in den langen, tiefen Anfangston hinein, um den folgenden kurzen und lauten Akkord umso schärfer anzureißen. Dreimal hintereinander schreibt Beethoven das vor.
Langer Ton, lauter Akkord!
Langer Ton, lauter Akkord!
Langer Ton, lauter Akkord!
Aber etwas fehlte. Die Kraft, die Dramatik und die Dunkelheit, die für die Coriolan-Ouvertüre notwendig gewesen wären, konnte Theodor alleine mit seiner Geige einfach nicht aufbringen. Wenn er dieses Stück nur einmal mit einem richtigen Orchester hören könnte!
Frustriert setzte Theodor seine Geige ab. Sein Magen knurrte. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, wo seine Eltern bestimmt schon auf ihn warten würden.
Frühjahr 1845: Theodors Elternhaus in Esens/Ostfriesland, Königreich Hannover
„…und deswegen müssen wir hier weg!“, hörte Theodor seinen Vater rufen, als er die Haustür schloss.
„Aber Johann“, erwiderte seine Mutter.
„Du bist hier jetzt seit elf Jahren Stadtmusiker. Du hast schon so vieles zum Guten verändert!“
„Es ist sinnlos“, antwortete Theodors Vater.
„Alles geht viel zu langsam. Esens wird sich nie weit genug entwickeln, um sich eine anständige Stadtkapelle leisten zu können. Am schlimmsten ist das für Theodor. Der Junge braucht eine Umgebung, in der er Fortschritte machen kann. Er übt so fleißig und kommt doch nicht voran!“
Als Theodor in die Küche kam, sahen seine Eltern ihn an. Seine Mutter lächelte.
„Müssen wir wirklich weg aus Esens?“, fragte Theodor.
„Ja, Theodor“, antwortete sein Vater.
„Du siehst es doch selbst. Seit unser Bürgermeister vor vier Jahren gegen den König protestiert hat, geht in Esens nichts mehr voran. Der König mag unsere Stadt nicht mehr.“
Theodor wusste, dass der frühere Bürgermeister Eduard Wedekind, mit dem sich sein Vater sehr gut verstanden hatte, vor vier Jahren sogar strafversetzt wurde. Eduard Wedekind hatte dagegen protestiert, dass der König die Staatsgrundgesetze aufheben wollte.
Christian, der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters, war Theodors bester Freund gewesen. Lange Abende hatten sie am Benser Tief verbracht oder im Bürgermeisterhaus gemeinsam musiziert. Christian konnte großartig Klavier spielen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Christian hatte zusammen mit seinem Vater und dem Rest seiner Familie aus Esens wegziehen müssen.
Es stimmte, dass in Esens seit der Strafversetzung der Bürgermeisterfamilie kaum noch etwas passierte. Zwar gab es eine neue Straße, die über Ogenbargen nach Wilhelmshaven führte, aber bislang hatte Esens kaum davon profitiert.
Theodor hatte dem König sogar einmal auf der Geige vorgespielt. Der König war begeistert gewesen und hatte Theodor in den königlichen Haushalt aufnehmen wollen. Aber Theodor hatte abgelehnt. Mit einem König, der die Familie seines besten Freundes strafversetzte, wollte er nichts zu tun haben.
„Aber wo sollen wir denn hin?“, fragte Theodor.
„Wir müssen nach Amerika“, antwortete sein Vater.
„Nach New York. Da haben wir als Musiker eine Chance. Seit drei Jahren gibt es in New York sogar ein philharmonisches Orchester!“
Theodors Augen leuchteten. Ein philharmonisches Orchester! Vielleicht würde er die Coriolan-Ouvertüre doch eines Tages noch mit einem echten Orchester erleben…
Was wird Theodor in Amerika erleben? Und was hat er mit dem Chicago Symphony Orchestra zu tun? Das lesen Sie in Teil II der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra.
Jonathan Stark – Dirigent
Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.