Theodor hat sich von Vince überreden lassen, zum philharmonischen Konzert zu kommen. Beethovens Coriolan-Ouvertüre will er sich nicht entgehen lassen. Noch weiß Theodor nicht, dass das Konzert viele andere Überraschungen bereithält…
(Das ist Teil III der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra. Teil I finden Sie hier und Teil II hier.)
Herbst 1862: Konzert der Philharmonic Symphony Society of New York, Zuschauerraum, New York City, USA
Theodor ließ seinen Blick durch die Konzerthalle schweifen. Sie war zum Bersten gefüllt. Das philharmonische Orchester hatte sich in den letzten Jahren einen guten Ruf erarbeitet. Das war auch der Arbeit von Karl Anschütz zu verdanken, das musste Theodor zugeben.
Er sah Männer, die Frack und Zylinder trugen, und Frauen in eleganten Abendkleidern. Auf der Galerie winkten sich zwei befreundete Familien einander zu – bei den philharmonischen Konzerten traf sich die High Society.
Plötzlich stutzte Theodor. Ein junger Mann, der gerade am Geländer der Galerie entlangging, kam ihm bekannt vor. Die schwarzen Haare, der ernste Gesichtsausdruck… Wo war ihm dieser Mann schon einmal begegnet? Theodor versuchte, genauer hinzusehen, konnte aber nicht mehr erkennen. Dann war der Mann verschwunden.
Theodor saß nicht auf der Galerie. Sein Platz war hinten rechts in der letzten Reihe im Parkett. Vince hatte sein Versprechen gehalten und ihm die Karte besorgt. Für einen guten Platz hatten seine Ersparnisse aber offenbar wieder einmal nicht ausgereicht. Deswegen saß Theodor nun direkt neben dem Saaleingang, durch den gerade die letzten Konzertbesucher strömten.
Noch immer grübelte Theodor, woher er den jungen Mann mit den schwarzen Haaren kannte. Als das Orchester auftrat, beschloss Theodor, später darüber nachzudenken. Vielleicht würde es ihm nach dem Konzert einfallen.
Zaghafter Applaus erfüllte den Saal. Theodor konnte die Holzbläser zuerst sehen, weil sie etwas erhöht auf der Bühne saßen. Er beobachtete, wie die Flötisten, Oboisten, Klarinettisten und Fagottisten ihre Plätze einnahmen.
Auch die Streicher waren inzwischen fast vollständig auf der Bühne erschienen. Theodor beobachtete, wie jeder Musiker zu seinem Platz ging. Alle Stühle waren belegt, bis auf…
…einen.
Theodor runzelte die Stirn. Das konnte nicht sein. Er ließ seinen Blick erneut von Musiker zu Musiker schweifen, sah sich jeden einzelnen ganz genau an.
Vince war nicht da.
Theodor erstarrte. Irgendetwas lief hier gewaltig schief.
„Amico“, zischte es hinter ihm.
„Vince! Was machst du denn da?“
Vince stand im Foyer und lugte durch die Saaltür, die er einen Spalt weit geöffnet hatte, in den Saal.
„Ich versuche, unser Konzert zu retten! Anschütz ist krank!“
Theodor zog die Augenbrauen hoch. All die reichen Leute hier im Saal, die ein erstklassiges Konzert erwarteten, das bereits auf der Bühne sitzende Orchester… Wenn das Konzert jetzt ausfiele, würde es richtig teuer für die philharmonische Gesellschaft werden.
„Und jetzt?“
Vince verdrehte die Augen.
„‚Und jetzt?‘“, äffte er Theodor nach.
„Du dirigierst natürlich!“
„Ich?!“
Theodor starrte Vince entsetzt an.
„Vince, das ist unmöglich! Ich kann doch nicht einfach auf das Podium gehen und Anschütz‘ Platz einnehmen!“
„Klar kannst du! Der Stuttgarter Hofkapellmeister ist dein Dirigierlehrer und die Coriolan-Ouvertüre ist dein Stück! Wo ist also das Problem?“
„Vince, das geht wirklich nicht. All die Leute… Die Musiker, die mich nicht kennen…“
„Ich kenne dich, das muss reichen. Das hier ist schließlich ein Notfall. Komm jetzt endlich! Anschütz‘ Dirigierstab liegt für dich bereit. Der Alte lässt ihn immer in der Künstlergarderobe liegen.“
Theodor atmete tief durch. Na gut. Er würde es tun. Er würde auf das Podium gehen und das philharmonische Konzert retten.
Herbst 1862: Konzert der Philharmonic Symphony Society of New York, auf dem Podium, New York City, USA
Es war vollkommen still im Saal. Theodor stand auf dem Podium und ihm war, als könne er alles gleichzeitig fühlen.
Die Stille.
Die erwartungsvollen Blicke der Musiker, die ihn nicht kannten.
Die skeptischen Blicke der Zuschauer in seinem Rücken.
Die Schweißperlen auf seiner Stirn.
Die Anspannung von Vince, der ihn konzentriert ansah, bereit, mit dem Spielen zu beginnen.
Theodor schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Atmete tief ein, gab den Auftakt –
Langer Ton, lauter Akkord!
Langer Ton, lauter Akkord!
Langer Ton, lauter Akkord!
Theodor lachte. Ihm war, als wäre er im Himmel.
Herbst 1862: Konzert der Philharmonic Symphony Society of New York, Künstlerausgang, New York City, USA
Theodor konnte sich vor Glückwünschen kaum retten. Das Konzert war ein voller Erfolg gewesen. Die Zuschauer hatten ihn mit tosendem Applaus belohnt. Einige waren sogar zum Künstlerausgang gekommen und hatten Theodor in Empfang genommen, als er aus der Konzerthalle herausgekommen war. Nun standen Theodor und Vince in einer kleinen Menschentraube vor der Konzerthalle und sogen die kühle New Yorker Herbstluft ein.
„Amico, das war wirklich fenomenale. Meine ganze famiglia ist begeistert von dir. Und ich auch.“
Theodor grinste breit.
„Danke, Vince. Ohne dich wäre es ja gar nicht dazu gekommen.“
Er ließ seinen Blick über die Menschengruppe schweifen. Plötzlich sah er, wie sich ein Mann den Weg zu ihm bahnte. Theodor erkannte den ernsten Gesichtsausdruck und die schwarzen Haare sofort wieder – es war der Mann, den er vor Konzertbeginn auf der Galerie gesehen hatte.
Was wollte dieser Mann von ihm? Theodor versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, wer er war. Vielleicht ein Konzertagent, den er auf seinen Tourneen mit dem Streichquartett kennengelernt hatte? Aber dafür war der Mann zu jung – er musste ungefähr in Theodors Alter sein.
Inzwischen war der Mann bei Theodor angekommen. Zu Theodors Verwunderung grinste er breit, als er Theodor ansah. Dann schüttelte er Theodor die Hand – was für schmale Finger, dachte Theodor noch.
„Wusste ich doch, dass du das bist!“, rief der Mann.
Und dann war Theodor alles klar. Die schwarzen Haare, das ernste Gesicht, das Alter, die Stimme, die schmalen Finger – Pianistenfinger – es war Christian!
Die beiden fielen sich in die Arme.
„Christian!“, rief Theodor.
„Wie ist das möglich? Was machst du hier?“
„Denkst du, deine Familie war die einzige, die nach Amerika ausgewandert ist?“, antwortete Christian.
„Wir hatten damals dieselbe Idee.“
Natürlich, das ergab Sinn. Christians Familie war vor dem Zorn des Königs auf einen anderen Kontinent geflüchtet.
„Ah, der amico perduto von meinem amico!“, rief Vince, der die Szene beobachtet hatte.
„Freut mich, dich endlich kennenzulernen. Ich habe viel von dir gehört!“
Vince und Christian schüttelten sich die Hand. Dann stellte sich Vince zwischen Theodor und Christian und legte beiden je einen Arm um die Schultern.
„Wisst ihr was, amici? Ich denke, heute Abend war der Anfang von etwas viel Größerem. Lasst uns die klassische Musik in ganz Amerika verbreiten! Wir sind jetzt ein Dirigent, ein Geiger und ein Pianist – wäre doch gelacht, wenn uns das nicht gelingen würde…“
Wie werden Theodor, Vince und Christian die klassische Musik in Amerika bekannt machen? Das lesen Sie in Teil IV der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra.
Jonathan Stark – Dirigent
Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.