You are currently viewing Haydn, der Folklorist

Haydn, der Folklorist

Haben Sie sich schon einmal gefragt, woher große Komponisten ihre Ideen genommen haben? Kein Zweifel: Eine gründliche Ausbildung, die solide Beherrschung des Kompositionshandwerks und unermüdlicher Arbeitswillen waren immer entscheidend. Manchmal haben große Komponisten aber auch schlichtweg abgeschrieben.

Das lesen Sie in diesem Artikel:

Vor allem die folkloristische Musik bot hierfür einen willkommenen Ideenpool: Diese Musik existierte in der Regel nicht in schriftlich fixierter Form, war aber melodisch eingängig, einfach einzuprägen und beim Publikum beliebt.

Haydns folkloristisches Finale: Sinfonie Nr. 104

Ein Beispiel dafür, wie die Folklore die sinfonische Musik beeinflussen konnte, ist Joseph Haydns Sinfonie Nr. 104. Haydn ließ sich bei der Komposition des Hauptthemas des Finalsatzes von der kroatischen Ballade Oj Jelena inspirieren, die Sie hier hören können:

Oj Jelena score

Hübsch, nicht wahr? Die Melodie ist eingängig, heiter und unbekümmert, und damit bestens geeignet für den Finalsatz einer klassischen Sinfonie. Haydn machte Folgendes daraus:

Mitschnitt vom 03. März 2019.
Es spielt das Athens Philharmonia Orchestra.
Dirigent: Jonathan Stark

Haben Sie es bemerkt? Haydn nimmt nicht nur kleine melodische Anpassungen vor, sondern unterlegt die Melodie außerdem mit liegenden Tönen in den Hörnern (ein sogenanntes Pedal). Dieser Instrumentationstrick verstärkt nicht nur die folkloristische Wirkung, sondern erinnert auch an ein prominentes Instrument der Volksmusik: den Dudelsack. Kein Wunder, dass die Sinfonie später auch den Beinamen „mit dem Dudelsack“ erhielt.

Eine kroatische Ballade und ein Dudelsack in einer Sinfonie eines österreichischen Komponisten – wie lässt sich all das miteinander vereinen? Dafür benötigen Sie ein wenig musikhistorisches Hintergrundwissen.

Haydn in London und Eisenstadt

Joseph Haydn unternahm zwischen 1791 und 1795 zwei Reisen nach London, um dort insgesamt zwölf brandneue Sinfonien uraufzuführen. Diese zwölf Sinfonien – es handelt sich um die Sinfonien Nr. 93 bis 104 – werden heute als „Londoner Sinfonien“ bezeichnet. Auch die Sinfonie Nr. 104 entstand also für das Londoner Konzertpublikum, was möglicherweise die Assoziation zum Dudelsack erklärt.

Bevor Joseph Haydn sich nach London aufmachte, war er in der österreichischen Stadt Eisenstadt auf dem Landsitz der einflussreichen ungarischen Familie Esterházy als Kapellmeister beschäftigt. In und um Eisenstadt existierte zu dieser Zeit eine kroatische Diaspora – Haydn dürfte die Melodie von Oj Jelena also auf den Straßen Eisenstadts aufgeschnappt haben.

Kunst = Inspiration + Handwerk

Inspiration ist das Eine, aber Kunst wird erst daraus, wenn man das entsprechende Handwerk beherrscht. Haydn wäre nicht Haydn, wenn er das von der kroatischen Ballade inspirierte Hauptthema im Verlauf des Finalsatzes nicht raffiniert verarbeiten würde.

Verschaffen Sie sich doch am besten selbst einen Eindruck. Ich hatte schon einmal das Vergnügen, den Finalsatz von Haydns Sinfonie Nr. 104 in Athen mit dem Athens Philharmonia Orchestra aufzuführen. Ich wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Ansehen des Konzertmitschnitts:

Mitschnitt vom 03. März 2019.
Es spielt das Athens Philharmonia Orchestra.
Dirigent: Jonathan Stark

Jonathan Stark – Dirigent
Jonathan Stark – Dirigent

Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.

Mehr Beiträge ansehen

Schreibe einen Kommentar