Dreißig Jahre nach seinem sensationellen Debüt in New York ist Theodor ein gefeierter Dirigent – doch sein Orchester existiert nicht mehr. Beim Frühstück mit Vince und Christian kommt Theodor eine Idee, wie er die klassische Musik in Amerika retten kann…
(Das ist Teil IV der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra. Teil I finden Sie hier, Teil II hier und Teil III hier.)
Frühjahr 1889: Theodors Wohnung in New York City, USA
Diese Tradition war Theodor heilig. Egal, wie viel er zu tun hatte: Jeden Sonntag lud er Christian und Vince zum Frühstück in seine Wohnung ein.
Vor fast fünfundzwanzig Jahren hatten sie mit dieser Tradition begonnen. Anfangs hatte ihr Sonntagsfrühstück nicht jede Woche stattfinden können, weil alle drei oft Konzerte im ganzen Land gegeben hatten. In letzter Zeit hatte sich der wöchentliche Rhythmus aber eingependelt, wenn auch der Grund dafür nicht gerade erfreulich war…
„Schon wieder ein Orchester weniger!“, rief Christian jetzt, eine Scheibe Brot in der einen, die Sonntagszeitung in der anderen Hand.
„McAffrey kann seine Musiker nicht mehr bezahlen. Hast du das schon gelesen, Theodor?“
Theodor nickte. Auch das war Teil der Tradition: Sobald sie um den runden Küchentisch versammelt waren, teilte Theodor die Sonntagszeitung in zwei Hälften und gab eine davon an Christian weiter. Später tauschten sie die Zeitungshälften.
Vince, der nie Zeitung las, griff nach dem Brotkorb.
„Amici, ich frage mich, woran es liegt, dass ein Orchester nach dem anderen stirbt. Wir waren doch auch erfolgreich!“
„Naja“, brummte Theodor.
„Am Anfang, ja. Jetzt sieht es düster aus.“
Nachdem Theodor vor fast dreißig Jahren als Dirigent bei der Philharmonic Symphony Society of New York eingesprungen war, hatte sich seine Karriere rasant entwickelt. Gemeinsam mit Vince und Christian war er mehrmals durch alle großen Städte Amerikas getourt.
Weil seine Interpretationen überall gefeiert wurden, hatte er vor zweiundzwanzig Jahren sogar sein eigenes Orchester gegründet: das Theodor-Thomas-Orchester. Vince war sein treuer Konzertmeister gewesen, Christian hatte immer wieder als Solist brilliert.
Was hatten sie alles auf die Beine gestellt! Als sie in der Irving Hall hier in New York eine Serie von Abendkonzerten veranstaltet hatten, waren sie mit den berühmten Orchestern aus London, Paris, Wien und Berlin verglichen worden. Gerade einmal sieben Jahre war es her, dass Theodor eine riesige Konzertserie mit Chor und Orchester veranstaltet hatte. Fast 60 000 Menschen waren gekommen, um das zu erleben!
Mit alledem war es nun vorbei. Das Theodor-Thomas-Orchester existierte nicht mehr.
„Weißt du, Vince“, sagte Theodor jetzt, „wir waren flexibel. Wir sind von Stadt zu Stadt gezogen, und wenn es in einer Stadt nicht genug Publikum gab, sind wir einfach weitergezogen.“
„Das war gut für uns, aber schlecht für die Städte“, ergänzte Christian, während er an einem Stück Brotrinde kaute.
„Keine Stadt freut sich, wenn fünftausend Menschen den Park zertrampeln, weil einmal im Jahr ein Orchester dort spielt. Nachhaltig ist das nicht.“
Theodor brummte bestätigend.
„Sobald man aber versucht, mit einem Orchester in einer Stadt Fuß zu fassen, wird man von den Kosten erschlagen. So dürfte es auch McAffrey und vielen anderen ergangen sein. Die Miete, die fixen Gehälter für die Musiker, die Proben…“
„…ah, sì! Die Proben! Man braucht viel mehr davon, weil man jeden Abend ein anderes Programm spielen muss!“ Vince nickte.
Es waren diese Kosten gewesen, die auch dem Theodor-Thomas-Orchester das Genick gebrochen hatten. Nach jahrzehntelanger Tourneetätigkeit hatten sich Theodor, Christian und Vince eine feste Basis in New York gewünscht. Doch sie waren wirtschaftlich daran gescheitert.
„Maledetto! Das verfluchte Geld! Es fehlt überall!“
„Nicht ganz“, sagte Christian und zeigte auf den Artikel, den er gerade las.
„Wacker and Birk vermelden einen Rekordgewinn. Unglaublich, wie weit Charles Wacker es mit seiner Brauerei geschafft hat. Er hat in Stuttgart studiert, wusstest du das, Theodor? In vier Jahren soll er sogar zum Direktor der Weltausstellung in Chicago werden.“
Vinces Augen leuchteten.
„Ah, ich liebe Weltausstellungen! Ist es nicht grandioso, wenn so viele Länder und Menschen zusammenarbeiten, um gemeinsam etwas Großes zu schaffen?“
Christian lächelte.
„Da hast du recht, Vince. So etwas Großes wie eine Weltausstellung kann nur gelingen, wenn alle mit anpacken. Ich bin gespannt, ob es in vier Jahren – Theodor, was hast du denn?“
Theodor saß unbeweglich auf seinem Stuhl und starrte auf den Küchentisch. Langsam hob er den Blick und sah zuerst Christian, dann Vince an. Dann weiteten sich seine Augen.
„Das ist es!“, rief er.
„Wir müssen zusammenarbeiten! Das ist die Lösung!“
Vince und Christian warfen sich einen verwirrten Blick zu. Aber Theodor war nicht mehr zu stoppen:
„Die Industriellen haben das Geld, wir die Musik! Wir müssen beides verbinden! Es muss doch möglich sein, das Kulturleben einer Stadt aus der Privatwirtschaft zu finanzieren!“
Christian nickte langsam.
„Die Industriellen würden damit Imagepflege für ihre Unternehmen betreiben…“
„…und könnten außerdem ihre Produkte direkt an das Publikum vermarkten!“, ergänzte Vince.
„Bier von Wacker and Birk in der Konzertpause!“ Vince lachte und klatschte in die Hände.
„È geniale!“
„Christian, du kennst dich da besser aus“, sagte Theodor.
„An wen muss man sich mit so einem Anliegen wenden? Wer hat Geld und liebt Kultur?“
„Diese Leute dürftest du wahrscheinlich in Chicago finden“, antwortete Christian.
„Dort wird das meiste Geld gemacht. Auch Charles Wackers Brauerei ist dort. Ich weiß, dass Charles sehr kulturbegeistert ist, was auch für seine einflussreichen Freunde gelten dürfte. Schreibe am besten an Charles Norman Fay. Er ist einer der wichtigsten Geschäftsleute in Chicago.“
Das war der Moment, in dem Theodor aufstand und in sein Arbeitszimmer stürmte, um einen Brief aufzusetzen…
Was wird Charles Norman Fay von Theodors Idee halten? Wird er Theodor nach Chicago einladen? Das lesen Sie in Teil V der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra.
Jonathan Stark – Dirigent
Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.