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Der Augenöffner (Herbst-2022-Mini-Erlebnis Teil 4/4)

Das ist der abschließende vierte Teil des Herbst-Mini-Erlebnisses 2022. Teil 3 (Drei Persönlichkeiten) finden Sie hier, Teil 2 (Der Kampf um Anerkennung) hier und Teil 1 (Der bahnbrechende Artikel) gibt es hier zu lesen.

In Teil 3 haben Sie erfahren, dass Riemann im Verlauf seines 20 Jahre langen beruflichen Spießrutenlaufs drei wichtige Personen kennenlernte: Johannes Brahms, Max Reger und Hans Pfitzner.

Alle drei hatten einen entscheidenden Einfluss auf Riemanns Leben und auf sein Ziel, endlich Professor zu werden. Darum geht es heute.

Teil 3 endete mit dem verzweifelten Hans Pfitzner, der an Suizid dachte, weil seine erste Oper („Der arme Heinrich“) nirgendwo auf Wohlwollen stieß.

Doch dann schickte er das Werk per Post an Hugo Riemann, der noch immer in Wiesbaden unterrichtete. Riemann begutachtete das Werk.

Und dieses Werk hatte etwas…

…etwas Bestimmtes…,

…das Riemann an etwas Vergangenes erinnerte…,

…Logik!

Logik, das war es! Genau das, worüber Riemann fast 25 Jahre zuvor einen Artikel veröffentlicht hatte, der die Fachwelt auf den Kopf gestellt hatte! Es lag hier vor ihm, in Pfitzners erster Oper! Was für ein Augenöffner!

Riemann antwortete Pfitzner per Brief:

„Ihre Freiheit und Kühnheit der Harmoniebehandlung ist erstaunlich, aber erweckt keine Spur von Missbehagen, da sie von einem starken Gefühl strenger Logik getragen wird, sodass ich die Überzeugung hege, dass Sie einer der berufensten Nachfolger Richard Wagners sind.“

„Einer der berufensten Nachfolger Richard Wagners“ – wow. Das hatte der junge Hans Pfitzner bestimmt nicht einmal zu hoffen gewagt. Riemanns Worte taten ihm gut und halfen ihm, durchzuhalten.

Mit Erfolg: „Der arme Heinrich“ wurde am 02. April 1895 in Mainz uraufgeführt. Ein wichtiger positiver Impuls für Pfitzner.

Aber auch Riemann hatte wieder Feuer gefangen: Logik, das war doch schon immer sein Steckenpferd gewesen! Er musste das verwerten, darauf aufbauen, dann hätte er vielleicht doch noch die Chance, endlich irgendwo zum Professor berufen zu werden.

Riemann schuftete jetzt 18 Stunden am Tag. Morgens um 4 begann er mit der Arbeit. Doch das hatte Nebenwirkungen…

Riemann verlor seinen Ziehsohn Max Reger, den Sie aus Teil 3 kennen, aus den Augen. Reger machte Schwierigkeiten: Er fiel in der Öffentlichkeit immer wieder negativ auf, verschuldete sich, wurde sogar alkoholabhängig.

Elisabeth Riemann – Hugo Riemanns Ehefrau – sagte zu dieser Zeit über Max Reger:

„Wenn es ihm jetzt nicht gelingt, seiner bösen Leidenschaft Herr zu werden, dann sehe ich für ihn eine traurige Zukunft … Es wäre wirklich ein Jammer, wenn ein solches Talent an einer so erbärmlichen Schwäche zu Grunde ginge.“

Doch es half alles nichts. Reger erlitt einen Zusammenbruch. Im Jahr 1898 verließ er seine Pflegefamilie – seine Schwester Emma holte ihn ins leibliche Elternhaus zurück. Dort konnte sich Reger in den folgenden Jahren erholen, doch die Alkoholprobleme prägten sein ganzes Leben.

Riemanns seit 20 Jahren gehegter Wunsch, Professor zu werden, war also mit Kollateralschäden verbunden. Doch Riemann machte weiter. Er schuftete noch immer 18 Stunden am Tag und fühlte sich seinem Ziel so nah wie nie. Er konzentrierte sich jetzt auf die Perfektionierung seiner Lehrmethode.

Die damals etablierten Lehrmethoden waren streng abgegrenzt. Am deutlichsten wird das beim Klavierspiel: Hier stand die Ausbildung der motorischen Fähigkeiten ganz klar im Vordergrund – eine sehr einseitige Herangehensweise.

Riemann hatte eine andere Vorstellung. Die Musikausbildung musste ganzheitlich sein! Klavierunterricht sollte nicht Klavierunterricht sein, sondern immer Musikunterricht!

Deshalb integrierte Riemann viele verschiedene Aspekte der Musik in seine Lehrmethode: Harmonielehre, die Ausbildung des Gehörs, eine systematische Herangehensweise an Artikulation und vieles mehr.

Und dann… kam endlich der Erfolg.

Hugo Riemann wurde im Jahr 1901 zum Professor an der Universität Leipzig berufen. Leipzig – dort hatte vor 30 Jahren, direkt nach dem deutsch-französischen Krieg, alles begonnen!

Für vier Jahre war Riemann ein außerordentlicher Professor, dann wurde seine Stelle im Jahr 1905 zu einer planmäßigen Professur umgewandelt. Drei Jahre später wurde er dann sogar Direktor des neu gegründeten musikwissenschaftlichen Instituts. Er war – endlich – ganz oben angelangt.

Ach ja – es gab ja noch Johannes Brahms! Brahms war im Jahr 1897 in Wien verstorben. Doch Riemann konnte sich nun endlich Brahms‘ Liedern widmen, die in den 1880er-Jahren sein Interesse geweckt hatten. Im Jahr 1912 veröffentlichte Riemann einen Artikel, der sich ganz damit befasste: „Die Taktfreiheiten in Brahms‘ Liedern“.

Ein Pseudonym war für diesen Artikel nicht mehr notwendig 😉

Der Artikel über Brahms‘ Lieder ist eines von vielen Beispielen dafür, wie produktiv Riemann bis an sein Lebensende blieb.

Hugo Riemann starb am 10. Juli 1919 nach einem arbeitsreichen, aber erfüllten Leben in Leipzig.

Das war das Herbst-2022-Mini-Erlebnis. Pro Jahr erscheinen vier Mini-Erlebnisse zur klassischen Musik/Oper. Wenn Sie benachrichtigt werden möchten, wenn das nächste Mini-Erlebnis erscheint, abonnieren Sie bitte meinen Newsletter, indem Sie im folgenden Feld Ihre E-Mail-Adresse eintragen und anschließend auf den blauen Button klicken:

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