Teil 2 habe ich mit der Frage beendet, warum Ravels Orchesterfassung von Mussorgskis Bilder einer Ausstellung so berühmt ist (sie wird übrigens VIEL häufiger gespielt als Mussorgskis Original…das muss man sich mal vorstellen…).
Dann habe ich behauptet, dass Ravel viel mehr tut, als einfach nur Mussorgskis Komposition in das Orchester zu übertragen. Stattdessen „denkt“ er im neuen Medium, im Orchester. Ravel war ein phänomenaler Orchestrator.
Das möchte ich Ihnen heute gerne an einem Beispiel zeigen. Dafür muss ich Sie zuerst mit jemandem bekannt machen, nämlich mit…
...Orchestratorix!
Orchestratorix ist ein fiktiver Komponist und Orchestrator. Seine Studienjahre hat er (wie Ravel) in Paris verbracht, worauf er mächtig stolz ist. Dort hat er das Handwerk des Orchestrierens solide gelernt. Seine Fähigkeiten würde ich als durchschnittlich beschreiben (aber psst! Das hört er nicht gerne!).
Orchestratorix wird eine Stelle aus Mussorgskis Klavierkomposition orchestrieren, während wir ihm dabei über die Schulter schauen. Danach sehen wir uns an, wie Ravel dieselbe Stelle orchestriert hat. Und dann…Sie werden schon sehen 😉
Bereit? Los geht’s!
Sehen wir uns den Beginn der Nummer „Bydlo“ an. Auf dem Bild, das Mussorgski hier vertont hat, ist ein Ochsenkarren zu sehen, der durch das Land rollt. Im Folgenden sehen Sie einen Ausschnitt aus Mussorgskis Autograph. Für unsere Zwecke ist vor allem die Dynamikangabe wichtig, die ich blau markiert habe:
Mussorgski schreibt hier ff vor, also fortissimo, das bedeutet sehr laut. (Wenn Sie noch nicht so vertraut mit diesen Bezeichnungen sind, kein Problem: Sie können sie in meinem Überblicksartikel zur Dynamik in der Musik nachlesen.)
Hören Sie sich an, wie das klingt (das Hörbeispiel dauert ca. 3 Minuten):
Valentina Lisitsa (Klavier)
Gut. Sehen wir uns nun an, wie unser durchschnittlich begabter Orchestratorix diese Passage für Orchester schreiben würde…
Blick über die Schulter: Orchestratorix orchestriert „Bydlo“
„Sehr laut heißt sehr laut, nicht wahr?! Gut, dass ich das ganze Orchester zur Verfügung habe und nicht wie der arme Mussorgski nur das Klavier. Da kann ich ihm helfen, dass dieser Anfang WIRKLICH laut wird.
Die Melodie gebe ich den hohen Holzbläsern, den Hörnern und den hohen Streichern. Dabei verdopple ich die Melodie auch gleich in mehreren Registern, das ergibt einen noch durchschlagenderen Klang.
Das, was in Mussorgskis Klavierfassung in der linken Hand gespielt wird, gebe ich den Fagotten, den Celli und Kontrabässen. Wow, was für eine Klanggewalt! Hört euch das an!“
Orchestratorix‘ Orchestration von Mussorgskis Bydlo
Danke, Orchestratorix.
Sie merken schon: Orchestratorix‘ Fassung ist nicht schlecht. Er hat ja auch nichts „falsch“ gemacht: Er hat gelesen, dass Mussorgski fortissimo einfordert, und diese Forderung in das Orchester übertragen. Er lässt alle Instrumente in ihrem stärksten Register spielen. Keine Frage, die Orchestermusiker werden Freude haben, und das Publikum wird von der Klanggewalt beeindruckt sein.
Nur… Geht das nicht auch ein bisschen…hm…kunstvoller? 😊
Orchestratorix hat nämlich ein Problem: Er hat in diesen ersten Takten sein ganzes Pulver verschossen. Da er gleich mit dem vollen Orchesterklang begonnen hat, kann er die Wirkung im weiteren Verlauf der Nummer nicht mehr steigern.
Orchestratorix:
„Aber bei Mussorgski steht doch fortissimo!“
Stimmt schon, Orchestratorix, stimmt schon. Aber lass uns doch mal schauen, wie dein Kollege Ravel dieselbe Passage für Orchester geschrieben hat…
Blick über die Schulter: Ravel orchestriert „Bydlo“
„Mit seiner Dynamikangabe fortissimo wollte Mussorgski offensichtlich die Naturgewalt der Ochsen ausdrücken, die den Karren ziehen. Klar, einen heranrollenden Ochsenkarren nur mit dem Klavier darzustellen, ist sehr schwierig, weil die Mittel so begrenzt sind. Wie könnte ich helfen, den Eindruck eines heranrollenden Ochsenkarrens mit den Mitteln des Orchesters deutlicher zu formulieren?
Ich stelle mir vor, dass man den Ochsenkarren zuerst aus weiter Ferne heranrollen sieht. Vielleicht taucht er aus dem Nebel auf – man kann ihn noch gar nicht richtig erkennen. Nur ganz leicht spürt man das Stampfen der Ochsen.
Ich fange deshalb nicht im fortissimo an, sondern recht sanft…Die Melodie gebe ich der Tuba, die in diesem Register einen zarten Klang hat…
Langsam kommt der Karren näher… Da ich so sanft begonnen habe, habe ich jetzt genug Raum, um zu steigern. Ich nehme die hohen Streicher dazu…
Jetzt rollt der Karren genau am Beobachter vorbei. Ich verdopple die Melodie in mehreren Registern, nehme Pauken und Schlagzeug dazu und schreibe jetzt das fortissimo vor, das bei Mussorgski schon ganz am Anfang steht…“
Na? Das ist etwas ganz anderes, nicht wahr? 😊
Orchestratorix:
„Hm…“
Das meinte ich damit, dass Ravel nicht einfach nur überträgt, sondern im Orchesterklang denkt. Statt die Orchestration als rein mechanische Aufgabe anzugehen, fragt er nach der Intention des Originals – um diese dann deutlicher herauszuarbeiten. Brillant.
Nicht umsonst hat Igor Strawinsky einmal über Ravel gesagt:
„Er ist der Schweizer Uhrmacher unter den Komponisten.“
Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.
I like the way you present your music knowlegde in a nice and inspiring discovery adventure for us, Jonathan! You are brilliant 🙂
Thank you, Elena! 🙂