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Die Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra – Teil II

Theodor und seine Eltern haben beschlossen, das Königreich Hannover zu verlassen und ihr Glück in Amerika zu suchen. In New York findet Theodor schnell eine neue Heimat…
(Das ist Teil II der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra. Teil I finden Sie hier.)

Herbst 1862: ein kleines Theater am Broadway, New York City, USA

Mit voller Kraft warf sich Theodor in den Schlussakkord. Er hatte das Gefühl, dass seine Geige glühte. Staub wirbelte im Orchestergraben auf. Im Augenwinkel sah Theodor seinen Pultnachbarn, Vince, der den Schlussakkord noch leidenschaftlicher zelebrierte.

Die letzten zweieinhalb Stunden hatten die beiden damit verbracht, Donizettis Lucia di Lammermoor zu spielen. Theodor liebte es, noch während des Schlussakkords einen Blick in den Zuschauerraum zu werfen. Es gab kaum einen Abend, an dem das New Yorker Publikum nicht in Begeisterungsstürme ausbrach, noch bevor der Schlussakkord verklungen war. So war es auch heute. Der Schlussakkord wurde nahtlos von stürmischem Applaus abgelöst. Als Theodor sich Vince zudrehte, blickte er in ein verschwitztes, aber grinsendes Gesicht.

„Auch nach siebzehn Jahren in Amerika habe ich mich noch nicht daran gewöhnt, wie begeistert die Amerikaner von italienischer Oper sind“, sagte Theodor, als der Applaus nachließ und die ersten Zuschauer das Theater verließen.

„Das liegt daran, dass du Norddeutscher bist, amico“, antwortete Vince.
Er tupfte sich den Schweiß mit einem Taschentuch von seinem Gesicht.
„Du spürst die Leidenschaft in dieser Musik nicht. Für uns Italiener ist das anders. Immer, wenn ich Lucia die Lammermoor spiele, kommt meine ganze famiglia zur Vorstellung.“

Theodor nickte. Vince hieß eigentlich Vincenzo und war vor zehn Jahren mit seiner Familie aus Italien nach Amerika eingewandert. Jetzt musste Theodor lächeln, als er sah, wie Vince seinen Eltern, Geschwistern und Cousinen auf der Galerie wild zuwinkte.

„Vielleicht hast du recht, Vince. Mein Vater vergöttert Beethoven. Kein Wunder, dass ich mit dem deutschen Repertoire mehr anfangen kann als mit dem italienischen.“

Vince hatte seiner Familie genug zugewunken und war nun dabei, seine Geige einzupacken.
„Ich verrate dir ein Geheimnis, amico. Egal, ob deutsches, italienisches oder irgendein anderes Repertoire – es geht immer um dasselbe: Zuhören. Und das kannst du gut, wo du doch so ein toller Kammermusiker bist.“

Das stimmte. Nachdem Theodor und sein Vater sich in den beiden ersten Jahren in Amerika als Stehgeiger in Kneipen und auf Kriegsschiffen durchgeschlagen hatten, war es Theodor später gelungen, ein Streichquartett zu gründen. Damit war er in New York schnell erfolgreich geworden. Jahrelang war er mit dem Streichquartett durch ganz Amerika getourt.

Nach einem Konzert in New York war Vince in Theodors Künstlergarderobe gekommen und hatte von seiner Virtuosität und seinem warmen Ton geschwärmt. Die beiden Geiger hatten sofort Freundschaft geschlossen. Seitdem verbrachten sie viele Abende nebeneinander in den Orchestergräben der kleinen Theater am Broadway.

„Danke, Vince. Ich weiß deine Anerkennung zu schätzen. Und ich bin froh, dass ich in Amerika so viel gute Kammermusik machen durfte. Aber eine Sache fehlt mir. Ich würde alles dafür geben, noch einmal mit meinem Freund Christian zusammenspielen zu dürfen.”

„Mit dem Bürgermeistersohn, der aus eurer Heimatstadt vertrieben wurde? Wie lange hast du ihn nicht gesehen?“

„Seit fast zwanzig Jahren. Ich habe keine Ahnung, wo er ist und ob er noch lebt. Mein Gott, der Junge konnte Klavier spielen.“

Vince sah seinen Freund traurig an. Dann hellte sich seine Miene auf.
„Ich kann dir zwar nicht sagen, wo dein Freund Christian ist, aber mit Beethoven kann ich dir dienen.“
Vinces Lächeln war jetzt so breit wie sein ganzes Gesicht.
„Ich spiele seit drei Monaten im philharmonischen Orchester. Das habe ich dir doch erzählt, non è vero? Morgen Abend ist Konzert. Und wir spielen – Beethoven!“
Vince brach in sein ansteckendes Lachen aus, das seinen ganzen Körper durchschüttelte. Dann sah er Theodor an.
„Du kommst doch, oder? Ich lade dich natürlich ein.“

„Mit Anschütz, dem alten Zeitschläger?“
Theodor verzog das Gesicht.

Der deutsche Dirigent Karl Anschütz war vor fünf Jahren nach New York gekommen. Theodor wusste, dass er ein wichtiger Mann war. Anschütz hatte im vergangenen Frühling in New York eine deutsche Opernkompanie gegründet und war gerade dabei, ein Musikkonservatorium aufzubauen. All das fand Theodor großartig – beim Dirigieren konnte er Anschütz aber kaum zusehen. Er fand seine Interpretationen farblos, fad und trocken.

Vince zwinkerte.
„Ja, amico, mit Anschütz. Ich weiß, du magst ihn nicht. Unter uns gesagt, es ist auch nicht einfach, mit ihm zu proben. Er kann ziemlich wütend werden. Wir mussten auch schon viele Konzerte absagen, weil er immer wieder krank ist. Trotzdem hätte ich gerne, dass du morgen zum Konzert kommst. Ich bin sicher, wenn ich dir sage, welches Stück wir spielen, wirst du nicht nein sagen.“

Theodor sah Vince skeptisch an. Er wusste nicht, ob es ein gutes Zeichen war, dass ein unterdrückter Lachanfall Vinces Körper schon wieder zum Beben brachte.

„Was spielt ihr denn?“

„Coriolan.“

Theodor riss die Augen auf. Seit fast zwanzig Jahren wollte er dieses Stück mit einem richtigen Orchester hören! Sofort fühlte er sich in seine Kindheit in Esens zurückversetzt. Als Zehnjähriger hatte er mit seiner Geige am Benser Tief gestanden und sich alle Klangfarben der Coriolan-Ouvertüre vorgestellt.

Langer Ton, lauter Akkord!
Langer Ton, lauter Akkord!
Langer Ton, lauter Akkord!

Vince konnte sein Lachen nicht mehr zurückhalten.
„Ich wusste, das würde dir gefallen!“, rief er.

„Ich komme“, antwortete Theodor.
„Darauf kannst du dich verlassen. Gut, dass ich morgen keinen Dirigierunterricht habe. Karl Eckert wollte mir eigentlich eine Stunde geben, weil er morgen in New York sein sollte. Er musste die Reise aber verschieben, weil er mit der Hofkapelle in Stuttgart zu viel Arbeit hat.“

„Du willst wohl immer noch Dirigent werden, was?“, feixte Vince.
„Kein Wunder, dass du Anschütz nicht magst. Er und dein Dirigierlehrer sind völlig verschiedene Typen. Aber ich bin gespannt, was du morgen zu unserer Coriolan-Ouvertüre sagen wirst…“

Wie wird Theodor die Erfüllung seines Traums erleben? Und wie findet er seinen Weg zum Chicago Symphony Orchestra? Das lesen Sie in Teil III der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra.

Jonathan Stark – Dirigent
Jonathan Stark – Dirigent

Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.

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