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Die Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra – Teil V

Theodor hat Charles Norman Fay in einem Brief um Unterstützung gebeten. Die Antwort des einflussreichen Geschäftsmanns aus Chicago verändert das Leben von Theodor, Christian und Vince…
(Das ist Teil V der Gründungsgeschichte des Chicago Symphony Orchestra. Teil I finden Sie hier, Teil II hier, Teil III hier und Teil IV hier.)

Sommer 1889: Theodors Wohnung in New York City, USA

„Nun lies’ schon vor, Theodor!”
Christian trommelte mit den Fingerkuppen auf den Frühstückstisch.
„Du hast uns lange genug auf die Folter gespannt! Außerdem kannst du ja gar nicht mehr aufhören zu grinsen!”

Schon am frühen Morgen war der Brief gekommen. Theodor hatte gespürt, dass es der Antwortbrief von Charles Norman Fay sein musste, noch bevor er den Brief in den Händen gehalten hatte. So war es dann auch gewesen. Natürlich hatte Theodor den Brief sofort lesen müssen.

„Na dann – hört gut zu”, sagte er jetzt und sah Christian und Vince feierlich an, die wie immer zum sonntäglichen Frühstück in seine Wohnung gekommen waren. Dann begann er vorzulesen.

Charles Norman Fay hatte an Freundlichkeit nicht gespart. Der Brief begann mit Fays Bewunderung für Theodors Arbeit der letzten Jahrzehnte. Dann ging Fay darauf ein, dass er das Orchestersterben in Amerika mit Sorge beobachte. Auch in Chicago gebe es nur noch wenige kleine Orchester – ein Umstand, den Fay und seine einflussreichen Geschäftsfreunde so nicht hinnehmen wollten.

Theodor holte tief Luft, bevor er den letzten Satz des Briefes vorlas.
„,Sehr geehrter Mr. Theodor Thomas,‘“ – Theodor sah Christian und Vince erwartungsvoll an – „,würden Sie nach Chicago kommen, wenn wir Ihnen ein dauerhaftes Orchester geben würden?‘“

Es war vollkommen still in der Küche. Theodor sah, wie seine beiden Freunde die Augen weit aufgerissen hatten. Vince war gerade dabei gewesen, seine Tasse zum Mund zu führen, war aber in der Bewegung erstarrt. Christian sog tief die Luft ein.

Dann brachen alle drei in Jubel aus.

Santa Madre di Dio!“ Vince schlug mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte.
„Wir haben es geschafft! Du hast es geschafft, Theodor! Wir kriegen ein Orchester!“

„Unglaublich“, sagte Christian, der noch immer ungläubig auf den Tisch starrte.
„Es hat tatsächlich funktioniert!“

„In Chicago gibt es wohl noch Leute, die für Kultur Geld in die Hand nehmen“, sagte Theodor.
„Wir sollten uns gleich an die Arbeit machen. Für Musiker habe ich schon gesorgt. Sechzig Kollegen aus dem ehemaligen Theodor-Thomas-Orchester sind bereit, mit nach Chicago zu kommen, um das Eröffnungskonzert zu spielen. Vince, du wirst natürlich der Konzertmeister sein. Bleibt noch die Frage, was wir auf das Programm setzen.“

„Beethoven!“, rief Vince sofort.
„Als Gruß an deinen Vater. Was wäre der Gute jetzt stolz auf dich. Nimm die fünfte Sinfonie. Das passt zum Schicksal der amerikanischen Orchesterszene.“ Vince grinste säuerlich.

„Ich stehe dir mit Tschaikowskys erstem Klavierkonzert zur Verfügung“, sagte Christian.

„So machen wir es.“ Theodor nickte zufrieden.
„Auf nach Chicago!“

16. Oktober 1891: Chicago Auditorium Theatre, Chicago, USA

Theodor lugte durch die Künstlertür in den Publikumsraum. Immer mehr Besucher strömten in den Saal. Das Eröffnungskonzert war ausverkauft!

Theodor strich seinen Frack glatt und dachte noch einmal über die vergangenen Monate nach. Viel war passiert. Zwischen dem ersten Brief von Charles Norman Fay und dem heutigen Eröffnungskonzert waren noch fast zwei Jahre vergangen.

Die Bürokratie sorgte auch in Chicago dafür, dass alles etwas langsamer ging. Erst vor einem Jahr hatte die Orchestervereinigung, die Fay gegründet hatte, zum ersten Mal tagen können. Auf dieser Tagung waren auch der Termin und das Programm für das heutige Eröffnungskonzert fixiert worden.

„Los geht’s, amici!“, hörte Theodor Vince rufen, der gerade zusammen mit Christian den Gang entlangkam.
„Heute ist der erste Tag der amerikanischen Orchesterzukunft!“

Die drei Freunde standen jetzt dicht beieinander. Keiner sagte mehr ein Wort.

Wir verstehen uns blind, dachte Theodor.
So ist es schon immer gewesen.

Das Konzert konnte beginnen.

17. Oktober 1891: Frühstücksraum im Stadthaus von Charles Norman Fay, Chicago, USA

Charles Norman Fay hatte es sich nicht nehmen lassen, Theodor, Christian und Vince in seinem Stadthaus einzuquartieren. So war es möglich, dass die drei Freunde ihre Frühstückstradition auch an diesem Morgen in Chicago fortsetzen konnten.

Allerdings wirkte Fays Frühstücksraum mit dem vielen dunklen Holz wesentlich feudaler als Theodors Küche. Außerdem saßen Theodor, Christian und Vince in breiten, weichen Sesseln, die – das musste Theodor zugeben – doch etwas bequemer als seine Küchenstühle waren.

Amici, das Konzert gestern war das größte meines Lebens“, sagte Vince, während er begeistert nach dem Blätterteiggebäck griff.
„Die Stimmung im Saal war einfach incredibile. Ich habe jetzt noch Gänsehaut.“
Vince schüttelte sich.

„Die Presse ist ganz deiner Meinung, Vince“, sagte Christian, der gerade, zurückgelehnt in den Sessel und die Beine bequem übereinander geschlagen, in der Zeitung las.
„,Nach vertraulichen Informationen, die dem Chicago Tribune vorliegen, war Theodor Thomas vertraglich dazu verpflichtet worden, eines der besten Orchester in den Vereinigten Staaten aufzubauen‘“, las er vor.
„,Das gestrige Konzert im Auditorium hat gezeigt, dass Mr. Thomas seinen Vertrag erfüllt hat.‘“

Christian und Vince sahen Theodor an. Der lächelte verlegen, als Christian weiterlas:

„,Mr. Thomas ist seit langem für seine Fähigkeit bekannt, neu gegründete Orchester schnell in die Lage zu versetzen, zufriedenstellend zu arbeiten, aber in diesem Fall hat er sich selbst übertroffen, die Ergebnisse sind einfach erstaunlich. Der erzeugte Klangkörper ist hervorragend, er besitzt eine Vitalität, eine Fülle und ein Volumen, wie man es von keinem Orchester in Chicago je zuvor gehört hat.‘“

Maestro, congratulazioni.“ Vince deutete eine Verbeugung an, wobei er aufpassen musste, sich nicht den Kopf an der Tischplatte zu stoßen.
„Ich habe es ja gesagt, der erste Tag der Zukunft! Jetzt dürfen wir nicht nachlassen, amici. Wie wäre es mit einer neuen Konzerthalle für Chicago?“

Christian prustete los.
„Bescheidenheit war noch nie deine Stärke, nicht wahr, Vince? Wie würdest du die neue Konzerthalle denn nennen? Chicago Orchestra Hall?“

„Hm… Ich hatte eher an Theodor Thomas Orchestra Hall gedacht“, antwortete Vince.
„Oder wie wäre es mit La casa concerto dei tre amici?“

Christian schüttelte lachend den Kopf und warf mit einer zusammengeknüllten Serviette nach Vince.
„Ein italienischer Name für eine Konzerthalle in Chicago? Niemals!“

Während Christian und Vince weiter leidenschaftlich diskutierten und sich gegenseitig mit immer ausgefalleneren Namen für die neue Konzerthalle überboten, schloß Theodor die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er lächelte. Erst jetzt spürte er, welche Last von ihm abfiel. Er hatte es geschafft. Die klassische Musik hatte wieder eine Bühne in Amerika bekommen.

Theodor dachte an seine Kindheit zurück. Hätte er sich jemals erträumen können, dass er es so weit schaffen würde? Er war doch ein ganz normaler Dorfjunge gewesen. Nichts hatte er gehabt. Nichts, außer seiner Geige.

Kurz war ihm, als könnte er das Plätschern des Benser Tiefs wieder hören. Er spürte den sanften Windhauch wieder auf seiner Haut. Dankbarkeit erfüllte ihn. Dankbarkeit dafür, dass er sein Leben der Musik hatte widmen können, dafür, dass er in Vince einen so treuen Freund gefunden hatte, und dafür, dass er Christian wieder getroffen hatte.

Wenn ich noch einmal von vorne beginnen müsste, dachte Theodor jetzt, würde ich alles noch einmal so machen.

Das war das fünfteilige Sommer-2021-Mini-Erlebnis: die Geschichte von Theodor Thomas, dem Gründer des Chicago Symphony Orchestra, der als 10-Jähriger aus Norddeutschland nach Amerika ausgewandert war, um dort zum bedeutendsten Dirigenten des 19. Jahrhunderts zu werden.

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Jonathan Stark – Dirigent

Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Bettina

    Sehr geehrter Herr Stark,
    Ihre Ausführungen haben mir außerordenlich gefallen. Sie haben die Geschichte so anschaulich vermittelt, dass ich das Gefühl hatte, dabei gewesen zu sein.
    Ich freue mich schon auf Ihre nächsten Beiträge.
    Hochachtungsvoll
    Ihr größter Fan Bettina

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