Mithilfe der Affektenlehre wurden in Barock und Klassik Gemütsregungen bei den Zuhörern ausgelöst. Dies gelang dank präziser musikalischer Werkzeuge. Was genau die Affektenlehre war, welche Affekte mit der Musik ausgelöst wurden und welche klugen Leute darüber geschrieben haben, lesen Sie im Folgenden.
Das lesen Sie in diesem Artikel:
Affektenlehre: eine Definition
Ein Affekt ist eine seelische Empfindung oder eine Gemütsregung. Entscheidend ist, dass die Ursache dieser Gemütsregung außerhalb des Individuums liegt, das diese Gemütsregung empfindet. Der Affekt muss also von außen ausgelöst werden.
Hinter der Affektenlehre stand die Idee, dass die Musik ein solcher Auslöser für Affekte sein kann. Eine Definition von Affektenlehre könnte daher folgendermaßen lauten:
Die Affektenlehre ist die Erzeugung von Gemütsregungen („Affekten“) mit musikalischen Mitteln.
Definition von "Affektenlehre"
Welche Affekte gibt es in der Affektenlehre?
Nun könnten Sie einmal kurz innehalten und darüber nachdenken, über welches Repertoire an Gemütsregungen Sie selbst verfügen. Bestimmt waren Sie schon einmal wütend und traurig, aber auch glücklich und vielleicht euphorisch.
Damit kennen Sie eigentlich schon die wichtigsten Affekte. Die Theoretiker der musikalischen Affektenlehre waren sich im Großen und Ganzen über die Affektarten einig. Unterschiedlich sind nur die Unterteilungen der Affekte, die im Laufe der Zeit immer zahlreicher wurden. Im Folgenden möchte ich Ihnen gerne zeigen, welche Affekte drei der bedeutendsten Theoretiker der Affektenlehre definiert haben:
1. Athanasius Kircher
Athanasius Kircher (1602–1680) war ein deutscher Universalgelehrter. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er damit, am Collegium Romanum in Rom zu forschen. Im Jahr 1650 nannte Kircher acht Affekte, die durch Musik ausgelöst werden können: Liebe, Traurigkeit, Freude, Wut, Mitleid, Furcht, Mut und Verzweiflung.
2. Johann Mattheson
Johann Mattheson (1681–1764) war ein deutscher Opernsänger, Komponist, Musikschriftsteller und Mäzen. Er war zudem ein langjähriger Freund von Georg Friedrich Händel. Mattheson fügte Kirchers Affekten im Jahr 1739 sechs weitere hinzu: Stolz, Demut, Hoffnung, Begierde, Hartnäckigkeit und Eifersucht.
3. Friedrich Wilhelm Marpurg
Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) war ein deutscher Musiktheoretiker, Musikkritiker und Musikhistoriker. Ihm wird die erste Systematisierung und Kanonisierung der Affektenlehre zugeschrieben. Darin wird erneut eine Erweiterung unternommen, sodass Marpurg von 27 (!) verschiedenen Affekten spricht.
Wie werden Affekte musikalisch ausgedrückt?
Nun fragen Sie sich möglicherweise, wie diese Affekte denn nun mit musikalischen Mitteln erzeugt werden sollen. Im Allgemeinen wurde in der Affektenlehre davon ausgegangen, dass nahezu alle musikalischen Parameter Auslöser des Affekts sein können. Allerdings wurden einige Parameter bevorzugt.
Primäre und sekundäre Affektauslöser in der Musik
Aus den theoretischen Schriften des Barocks lässt sich eine grobe Zweiteilung ableiten, die angibt, wie bedeutend ein musikalischer Parameter für die Affektenlehre ist. Die Parameter, die einen Affekt besonders gut transportieren (die „primären Affektauslöser“) sind die folgenden:
Melodie
Die Melodie ist eine Aneinanderreihung von Intervallen (Tonabständen). Jedem Intervall war ein bestimmter Affekt zugeordnet. (Wenn Sie mit dem Konzept der Intervalle noch nicht vertraut sind, lesen Sie diesen hervorragenden Artikel von Ulrich Kaiser.)
Rhythmus
Der Rhythmus galt als untrennbar mit der Melodie verbunden und prägte ebenso den Affekt einer Musikpassage entscheidend.
Tonart
Das ist ein wirklich großes Gebiet. Der Aspekt der Tonart stand bezüglich der Affektenlehre im Zusammenhang mit der sogenannten Tonartencharakteristik, die für ganze Komponistengenerationen maßgeblich war. (Wenn Sie einen Überblick über die verschiedenen Charakteristika der einzelnen Tonarten bekommen möchten, lesen Sie diesen Artikel der FAZ.)
Harmonik
Auch der Harmonik kam in der Affektenlehre eine entscheidende Bedeutung zu, denn je nachdem, wie „scharf“ oder „mild“ der harmonische Verlauf eines Stückes war, wurde ein anderer Affekt ausgelöst.
Neben diesen primären Affektauslösern gab es jedoch noch weitere musikalische Parameter, die gemäß der Affektenlehre ebenfalls Affekte auslösen konnten. Zu diesen „sekundären Affektauslösern“ gehören:
Taktart
Die Taktart bestimmt die Schwerpunkte der Musik und damit auch den Affekt. (Wenn Sie mehr über die Schwerpunkte in einem Musikstück erfahren möchten, lesen Sie hier weiter.)
Tempo
Vielleicht wundern Sie sich, dass dieser Aspekt erst jetzt auftaucht. Tatsächlich steht ein bestimmtes Tempo per se aber zunächst einmal für keinen spezifischen Affekt. Ein langsames Stück kann ja beispielsweise sowohl traurig als auch feierlich-majestätisch sein. (Lesen Sie hier mehr über das Tempo oder erfahren Sie, was Mozart zum Tempo zu sagen hatte.)
Klangfarbe
Dieser Aspekt war in der Zeit, in der die Affektenlehre entwickelt wurde, mit der Instrumentenwahl gleichzusetzen. Je nachdem, welches Instrument eine bestimmte Passage spielte, konnte der Affekt dieser Passage verändert werden.
Spieltechnik
Streichinstrumente können beispielsweise gestrichen oder gezupft werden – der transportierte Affekt ist jeweils verschieden.
Nun kennen Sie die wesentlichen Affektauslöser in der Affektenlehre. Im Folgenden möchte ich Ihnen gerne präsentieren, was zwei prominente Vertreter der Affektenlehre zu diesem Thema zu sagen hatten: Gioseffo Zarlino und Johann Mattheson.
Zarlino: Affektenlehre bis ins Detail
Gioseffo Zarlino (1517–1590) war ein italienischer Kapellmeister, Musiktheoretiker und Komponist. Er war vor allem am berühmten Markusdom in Venedig tätig.
Als bedeutender Musiktheoretiker seiner Zeit hatte er auch zur Affektenlehre Wichtiges beizutragen. Bemerkenswert ist hier vor allem sein minutiöses Vorgehen: Zarlino setzte sich dafür ein, dass die Affektenlehre bis in die kleinsten Bausteine der Musik (die Intervalle oder Tonabstände) hinein wirken müsse. So definierte er Intervalle, die für traurige Affekte standen (zum Beispiel die kleine Terz und die kleine Sext), und Intervalle, die für freudige Affekte standen (zum Beispiel die große Sekund und die große Terz). Zudem hatte laut Zarlinos Affektenlehre auch die Intervallrichtung (aufwärts oder abwärts) einen Einfluss auf den ausgelösten Affekt.
Mattheson: der Urvater der Affektenlehre
Johann Mattheson habe ich bereits oben kurz genannt. Für Dirigenten ist Mattheson bis heute bedeutend, weil sein Hauptwerk „Der vollkommene Capellmeister“ nach wie vor als Standardwerk der historischen Aufführungspraxis gilt.
Für Mattheson war es absolut wesentlich, dass Musik immer konkrete Affekte transportieren müsse. Wie genau das passieren sollte, hat er auch detailliert beschrieben. Deshalb möchte ich Herrn Mattheson gerne selbst zu Wort kommen lassen:
Die Hoffnung ist eine Erhebung der Seele oder der Geister; die Verzweiflung aber ist eine Depression derselben: das alles sind Dinge, die sich sehr natürlich mit dem Ton darstellen lassen, besonders wenn die anderen Umständlichkeiten (besonders das Tempo) ihren Teil dazu beitragen. Und auf diese Weise kann man einen empfindsamen Begriff von allen Gefühlen bilden und entsprechend komponieren.
Johann Mattheson
Zorn, Glut, Rache, Wut, Zorn, und alle andern so heftigen Neigungen, sind eigentlich viel besser geeignet, allerlei musikalische Erfindungen zur Verfügung zu stellen, als die sanften und angenehmen Leidenschaften, die mit viel mehr Raffinement gehandhabt werden. Doch genügt es auch bei den ersteren nicht, wenn man nur stark poltert, viel Lärm macht und kühn wüthet: es genügen eben nicht, wie viele meinen, Töne mit vielen Schwänzen; sondern jede dieser heftigen Qualitäten erfordert ihre besondere Charakteristik, und muss trotz des kräftigen Ausdrucks noch eine werdende Singbarkeit haben: wie unser allgemeiner Grundsatz, den wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, ausdrücklich fordert.
Johann Mattheson
Und später?
Jetzt haben Sie einen Überblick über die Affektenlehre erhalten. Doch wie ging es mit diesem bedeutenden Konzept weiter? Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die Affektenlehre zunehmend von der Idee des musikalischen „Charakters“ verdrängt. Das hatte auch mit der zunehmenden Konzentration auf den Künstler als Individuum zu tun.
Überlegen Sie: Ein „Charakter“ vereinigt viele verschiedene Affekte in sich, die mal stärker, mal schwächer zur Geltung kommen können. Der Charakter bleibt aber immer derselbe. Somit lässt sich ausgehend von der Affektenlehre eine Entwicklungslinie zum romantischen Charakterstück ziehen.
Jonathan Stark – Dirigent
Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.