Hugo Riemann wurde am 18. Juli 1849 in Großmehlra bei Sondershausen (Thüringen) geboren. Im Laufe seines arbeitsreichen Lebens sollte er zu einem der einflussreichsten Musikwissenschaftler überhaupt werden.
Hinweis: Hugo Riemann ist die Hauptperson im Herbst-2022-Mini-Erlebnis.
Seine größten Beiträge leistete Riemann auf dem Gebiet der Musiktheorie. Er entwickelte eine neue Methode der Harmonieanalyse, die als „Riemannsche Harmonielehre“ bekannt ist. Mit seiner Methode ging Riemann einen Schritt über reine Tonleitern und Tonarten hinaus, indem er es ermöglichte, einzelne Klänge zu DEUTEN. Laut Riemann hat jeder Klang in einem Musikstück eine FUNKTION.
Im Grunde geht es darum, zu verstehen, welche Akkorde (= zusammenklingende Töne) zusammenpassen und wie sie miteinander interagieren, um den Gesamtklang und die Gesamtwirkung eines Musikstücks zu erzeugen. Riemann schlug vor, dass Akkorde in verschiedene Kategorien eingeteilt werden können, basierend auf ihrer FUNKTION (man könnte auch „Aufgabe“ sagen) im Stück.
Es lohnt sich, sich zumindest mit den zwei wichtigsten Funktionen vertraut zu machen: Tonika und Dominante.
Die Tonika ist das tonale Zentrum eines Musikstücks. Die aller-, allermeisten Musikstücke beginnen und enden mit der Tonika. Wenn Sie in ein Konzert gehen, können Sie im Programm häufig lesen, in welcher Tonart ein Stück steht (Beethovens siebte Symphonie steht zum Beispiel in A-Dur, Mozarts Symphonie Nr. 40 steht in g-Moll). In Beethovens 7. Symphonie ist der A-Dur-Akkord die Tonika. In Mozarts Symphonie Nr. 40 ist der g-Moll-Akkord die Tonika.
Die Dominante ist der Akkord, der in der größten Spannung zur Tonika steht. Wenn Sie den Dominantakkord hören, „spüren Sie“, dass eigentlich nur die Tonika folgen kann. Die Dominante „dominiert“ also das musikalische Geschehen – daher der Name. Sehr häufig ist die Dominante ein Zwischenziel in einem Musikstück. Ein einfacher, aber sehr wirkungsvoller und entsprechend häufig benutzter Harmonieverlauf lautet also Tonika–Dominante–Tonika.
Riemanns Ansatz ermöglichte es Musikern, die Struktur und die Entwicklung von Musikstücken besser zu verstehen und zu interpretieren. Seine Ideen wurden von vielen Musiktheoretikern und Komponisten aufgegriffen und haben die Musikanalyse bis heute beeinflusst. In den USA ist beispielsweise die „Neo-Riemannian Theory“, die auf Riemanns Gedanken fußt, total „in“.
In Deutschland war Riemanns Funktionstheorie (in einer von Max Reger, Hermann Grabner und Wilhelm Maler vereinfachten Form) für viele Jahrzehnte DIE Analysemethode schlechthin. An allgemeinbildenden Schulen ist sie das teilweise bis heute, auf Hochschulebene nimmt ihre Bedeutung heute ab.
All das war selbstverständlich nicht im Entferntesten zu erahnen, als Hugo Riemann am 18. Juli 1849 zur Welt kam.
Er wuchs zwar nicht in einer Musikerfamilie auf, doch Musik spielte eine wichtige Rolle: Hugo Riemanns Vater war Rittergutsbesitzer und Oberamtmann. Für einen Sohn aus gutem Hause gehörte eine musikalische Ausbildung, vor allem im Klavierspiel, natürlich dazu.
Eine künstlerische Laufbahn war also im Bereich des Möglichen. Ursprünglich wollte Riemann Dichter werden, doch das wollte nicht so richtig klappen. Aber auch seine Leidenschaft für Musiktheorie entdeckte Riemann früh: Bereits 1870 erschienen erste Artikel über Richard Wagner und Gaspare Spontini, allerdings unter dem Pseudonym „Hugibert Ries“.
Dummerweise gehörte es für einen Sohn aus gutem Hause ebenso selbstverständlich dazu, für das Vaterland in den Krieg zu ziehen. Genau das tat Hugo Riemann, als er 1870/71 am Deutsch-Französischen Krieg teilnahm. Danach stand fest: nur noch Musik.
Riemann ging nach Leipzig, um Musiktheorie, Komposition und Musikgeschichte zu studieren. Er war fleißig und hätte bereits früh promovieren können, doch seine Doktorarbeit wurde vom Hegelianer Oskar Paul zunächst abgelehnt. Riemann musste also eine Extrarunde drehen: Im Jahr 1873 gelang es ihm schließlich, in Göttingen die philosophische Doktorwürde zu erlangen.
Danach allerdings wollte sich der berufliche Erfolg nicht so richtig einstellen: Riemann schuftete zwar Tag und Nacht, schrieb und veröffentlichte sehr viel und ging mehreren kleinen Arbeiten (als Klavierlehrer, Chorleiter etc…) nach, aber Anerkennung und ein gutes Einkommen bekam er nicht.
Er lernte in diesen Jahren jedoch viele zentrale Persönlichkeiten des Musiklebens kennen, zum Beispiel Johannes Brahms. Viele Komponisten der jungen Generation gingen durch Riemanns Unterricht, etwa Hans Pfitzner, dem Riemann ermutigend zur Seite stand, und Max Reger, für den Riemann eine Vaterfigur wurde.
Max Reger gehörte irgendwann wie ein Sohn zu Riemanns Familie. Später kam es jedoch zum Zerwürfnis, als Max Reger seine Alkoholabhängigkeit nicht mehr in den Griff bekam.
Erst im Jahr 1901 – knapp 30 Jahre nach seiner Promotion – wurde Riemann als Professor an die Universität Leipzig berufen. Nach vier Jahren als außerordentlicher Professor wurde er 1905 zum planmäßigen Professor hochgestuft und war damit auch beruflich endlich „angekommen“.
Wegweisend war vor allem Riemanns holistische Unterrichtsmethode: Klavierunterricht beispielsweise sollte nicht einfach nur KLAVIERunterricht sein, sondern umfassender MUSIKunterricht. Dazu gehören selbstverständlich Überlegungen zu Artikulation und Dynamik, das Trainieren des Gehörs, eine genaue Vorstellung der Phrasierung und eine detaillierte Kenntnis der Musikgeschichte.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch dazu, dass nicht alle Ideen Riemanns unkritisch aufgenommen wurden: Insbesondere seine Äußerungen zur musikalischen Nationalität, zum harmonischen Dualismus und zur Phrasierung haben ihm auch Kritik eingebracht. Auch muss genannt werden, dass es Querverbindungen zum Nationalsozialismus gibt. Diese betreffen jedoch nicht Riemann als Person, sondern die Riemann-Rezeption. Aufgearbeitet wurden diese Querverbindungen in einem EXZELLENTEN Artikel von Ludwig Holtmeier.
Zwar hat sich Riemann immer wieder auf prestigeträchtigere Stellen in Berlin, Prag und Wien beworben, wurde jedoch nie dorthin berufen. So blieb er für den Rest seines Lebens in Leipzig, schrieb viel, publizierte viel und komponierte ein bisschen.
Einige von Riemanns Kollegen und Schülern haben ihn als sehr engagierten und einflussreichen Musikwissenschaftler beschrieben. Arnold Schönberg beispielsweise nannte Riemann „den größten Musiktheoretiker seiner Zeit“ und erwähnte ihn oft als großen Einfluss auf seine eigene Arbeit. Auch Max Reger musste anerkennen, dass Riemann eine Methode entworfen hat, um „die Musik des 19. Jahrhunderts zu verstehen und zu schätzen, die uns sonst verschlossen geblieben wäre.“
Als Hugo Riemann am 10. Juli 1919 in Leipzig starb, hinterließ er ein umfangreiches Werk, das seine wichtige Rolle in der Musikwissenschaft, der Musiktheorie und der Musikpädagogik belegt. Er bleibt eine der bedeutendsten Figuren in der Musikgeschichte, die im Hintergrund viele wichtige Fäden gezogen hat.
Jonathan Stark – Dirigent
Hallo! Ich bin Jonathan Stark. Als Dirigent ist es mir wichtig, dass Konzert- und Opernbesuche beim Publikum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei hilft Hintergrundwissen. Deshalb blogge ich hier über Schlüsselwerke der klassischen Musik, über Komponisten und Komponistinnen, über die Oper und vieles mehr, was sich in der aufregenden Musikwelt ereignet.